Von außen betrachtet sind es meist klassische, unauffällige Situationen, die Paare gegeneinander aufbringen. Von innen betrachtet sieht das ganz anders aus – woher kommt das? Warum reiten wir uns so oft ganz ungewollt an den Abgrund einer schmerzhaften Beziehungsdynamik?
„Wieso heulst du denn jetzt schon wieder?“ Paul lehnt an der Theke der offenen Wohnküche und schiebt die Hände in die Taschen seiner Jeans. Eigentlich würde er Tanja gerne umarmen, sie trösten. Aber er ist unsicher, wie sie reagiert. Also – lieber nichts tun.
Tanja springt auf: „Du verstehst gar nichts. Nie. Kannst vielleicht du auch mal was dafür tun, das hier alles funktioniert? Nur ein einziges Mal mit anpacken? Dein Sachen selbst aufräumen?“ Sie tritt gegen Pauls Sporttasche, die er gerade eben abgesetzt hatte, um seine Freundin zur Begrüßung in den Arm zu nehmen. „Mach deinen Dreck selbst weg!“ Sie knallt die Tür hinter sich zu.
Paul hämmert eine Faust auf den Tresen und brüllt ihr hinterher: „Es reicht nie, was ich für uns tue. Fordern, fordern, fordern, das ist alles, was du kannst! Es wird nie genug sein!“. Er dreht sich um, öffnet die Kühlschranktür und nimmt sich ein Bier, greift zur Zeitung. Wenigstens einer muss ja den Überblick behalten in diesem Affenstall.
Typisch Mann? Typisch Frau? Die müssten einfach lernen, wie man miteinander redet, sollte man meinen. Aber – ist es wirklich so „einfach“?
Was passiert bei so einem Streit? Oberflächlich sind zwei Menschen nicht einer Meinung – sie haben einen Konflikt, unterschiedliche Auffassungen. Tanja fühlt sich nicht genug unterstützt, Paul glaubt, dass sein Tun nicht wertgeschätzt wird. So weit, so alltäglich. Warum entsteht aus einem Zank so oft ein Drama – ein Kampfszenario auf Leben und Tod?
Das Folgende klingt jetzt möglicherweise übertrieben – aber für unser Gehirn und unser Nervensystem geht es in solchen Situationen tatsächlich ums Überleben. Daher fährt unsere Körperintelligenz von Anfang an schwere Geschütze auf, so wie sie es vor 10.000 Jahren auch schon tat, um uns vor dem vielzitierten Säbelzahntiger zu beschützen.
Was damals funktioniert hat, muss auch heute herhalten, zumindest wenn es nach unserem sogenannten Reptilien- oder Stammhirn geht. Dieser entwicklungsgeschichtlich älteste Teil unserer Hirnstruktur sorgt zuverlässig dafür, dass wir überleben. Herzschlag, Atmung, Blutdruck, Verdauung und unser autonomes Nervensystem werden von ihm gesteuert. Hier entscheidet sich in jedem Moment, ob wir uns sicher fühlen oder besser auf das Überlebensnotsystem umschalten: Kampf, Flucht, Unterwerfung oder Immobilität. (Auf Englisch klingt es einprägsamer: Fight, Flight, Freeze.)
Wichtig an dieser Beschreibung ist vor allem der Begriff „autonom“ – als Teil einer Hirnstruktur, die teilweise recht unabhängig voneinander agiert, fragt das Stammhirn nicht lange nach, bevor es einen Handlungsimpuls setzt.
Wenn für unser Reptilienhirn Gefahr besteht, wird in Millisekunden neurobiologisch eine Kette von Reaktionen ausgelöst. Und leider ist es in solchen Beziehungskonflikten sehr schnell soweit: Tanja und Paul fühlen sich beide in Gefahr.
Je enger wir einem Menschen verbunden sind, desto eher drücken seine Reaktionen unsere Triggerpunkte. Unser limbisches System, als Funktion des Mittelhirns, gleicht permanent interne Signale, Umwelterleben und gespeicherte Erfahrungen ab. Bei Tanja kommt sofort die Rückmeldung: Situation bekannt. Gefahr droht! Wenn man ihre unsichtbaren Reaktionsmuster sichtbar machen könnte, stünde da so etwas wie: „Ach, das war doch schon früher so, als Papa sich aufs Sofa fläzte und Mama in der Küche schuftete und sauer war!“ Diese Verkettung ist Tanja überhaupt nicht bewusst, sie fühlt nur fiesen Ärger und der Auslöser ist offensichtlich Paul – wer sonst? Also geht Tanja zum Angriff-Flucht-Szenario über – und hat in ihrer Wahrnehmung sehr viele gute Gründe dafür. Und Paul – dessen Amygdala als Teil des limbischen Systems auch ein Vergangenheits-Muster wiedererkennt – zuckt zurück wie das Kaninchen vor der Schlange und tut einfach: Gar nichts. Er schaltet auf Durchzug und auch er findet viele gute Erklärungen für sein Verhalten.
Im limbischen System werden auch soziale Aktivitäten gesteuert, zum Beispiel unsere Fähigkeit zuzuhören und nachzufragen. Im beschriebenen Konfliktfall wird das alles prompt außer Kraft gesetzt. Das älteste Hirnfragment, das Stammhirn, übernimmt. Es ist wie in vielen mittelständischen Unternehmen – das haben wir schon immer so gemacht.
Instinktgesteuerte Reaktionen übernehmen das Kommando und unsere Empathie-Fähigkeit ist offline – das Gehirnareal, welches dafür zuständig ist, wird quasi überstimmt. Dieses Areal, der Frontalcortex, ist viel später in unserer menschlichen Entwicklungsgeschichte entstanden. In ihm finden sich Funktionen wie Sprachfähigkeit, Steuerung des Blickkontaktes, Logik, Humor und Entscheidungsfähigkeit. Hier ist auch das soziale Empathie-System untergebracht. Es gibt dort Spiegelneuronen. Sie ermöglichen es, sich in andere Menschen einzufühlen. Zu fühlen, was sie fühlen.
Das Problem – der Frontalcortex ist ein hochsensibler Prozessor, er arbeitet langsam. Aber Gefahrenabwehr muss schnell sein – also übernehmen sofort die alten Generäle in der Amygdala das Ruder. Puh – Glück gehabt. Situation gerade noch gerettet. Gehirn und Nervensystem haben ihre Aufgabe erfüllt – das Überleben von Tanja und Paul ist gesichert. Ob ihre Beziehung das auch überlebt? Nun – wir werden sehen. Ich bin da eigentlich ganz guter Hoffnung.
Der erste Schritt für die beiden wäre es, zu verstehen, dass unter starkem Stress ein einfühlender, guter Kontakt und eine überlegte Kommunikation nicht mehr möglich sind. Der zweite Schritt ist die Einsicht, dass dieser starke Stress nichts mit dem Gegenüber zu tun hat, sondern vom eigenen Nervensystem erzeugt wird. Und der dritte Schritt könnte es sein, sich einen lichten, liebevollen Moment zu nehmen, um eine Entscheidung zu treffen – für das Miteinander, für die Beziehung.
So eine Entscheidung ist vielversprechend, weil sie neue Handlungsmuster ermöglicht. Zum Beispiel den Schritt, sich eine neutrale Instanz als Paarcoach zu suchen. Warum ein traumasensibles Paarcoaching gerade bei Konflikten, die sich scheinbar in Endlosschleife wiederholen so hilfreich ist, darüber schreibe ich in einem der nächsten Blog-Artikel.
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